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2. Das Dorf
Das Dorf im 19. Jahrhundert bildete den Siedlungskern des ländlichen Lebens und Wirkens. Zur Dorfgemeinschaft gehörten die Bauern, Handwerker und eine Spannbreite von Dienstleistungsberufe. Im Dorf wurde die landwirtschaftliche Tätigkeit der dort lebenden Bauern organisiert und auch kontrolliert – man lebte und arbeite zusammen.
Das Dorf oder „die Welt des Bauern“ (Blum 1982:9) war ein Kollektiv von Arbeitenden, die eine Gemeinschaft bildete. Diese Gemeinschaft konnte funktionieren, da die Abhängigkeiten, Arbeitsweisen und Lebensstrukturen durch Regeln und Gesetze reguliert wurden. Die enge Zusammenarbeit machte also aus der Dorfgemeinschaft ein soziales und ökonomisches Netzwerk, das
„von natürlichen Produktionsbedingungen (Wetter, Boden, Klima), den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen (gesetzt durch Herrschaft, Bevölkerungsdichte oder Erbrechte) und von den lebensweltlichen Organisationsformen bäuerlicher Reproduktion“ (Kaschuba 1988:64) bestimmt war.
Dieses Regelsystem, welches sich aus Alltag und gemeinsamer Erfahrung entwickelt hat, sicherte das Überleben auf dem Land. Die Menschen, ihre Produktionsweisen und Arbeitsabläufe und Leistungen waren eng miteinander verknüpft und verbanden die Bewohner des Dorfes zu einer Gemeinschaft oder auch der „Gemeinde“. Kaschuba schreibt dazu in Lebensfelder: Das „Ich“ als „wir“:
„Ohne ein familiäres Produktionssystem, ohne generationsübergreifende Denkhaltungen, ohne feste jahres- und tageszeitliche Arbeitsrhythmen und ohne nachbarschaftlich-kooperative Regelsysteme war bäuerliches Überleben praktisch zu keiner Zeit möglich“ (Kaschuba 1988:64).
Je nach Bewirtschaftungsart und -system der Felder konnten oder mussten Beschlüsse über das Land oder „Termine für das Pflügen, das Säen und alle anderen Arbeitsvorgänge (...) welche Getreidearten angebaut und wann die abgeernteten Felder für das Abweiden durch die Rinder des Dorfes geöffnet werden sollten“ (Blum 1982:17) in der Gemeinde oder Dorfversammlung beschlossen werden.
Entscheidungen der Dorfgemeinde beinhalteten z. B. auch den Erwerb oder Verkauf von Weide- oder Ackerland, für die Gemeinschaft; sie war zuständig für die innere Ordnung des gemeinsamen Lebens und sorgte für moralische und religiöse Standards der Mitlieder wie beispielsweise der sonntägliche Kirchgang, der Empfang der Sakramente oder das Bestrafen von Trunkenheit und Glücksspiel. Aufgrund der Größe und dadurch entstehenden Intimität, war gegenseitige Kontrolle einfacher und die Privatsphäre beschränkter.
Des weiteren war ein Kennzeichen des dörflichen Zusammenlebens die Erfüllung gemeinsamer Pflichten. So gab es zum einen die Pflichten gegenüber dem Grundherrn, die auch für die Gemeinschaft galten, wie auch die Pflichten gegenüber dem Nachbarn in der Gemeinde. Aufgrund der Überschaubarkeit war das Gemeinschaftsgefühl ausgeprägter. Was wir heute noch unter dem Begriff „Nachbarschaft“ verstehen, war auch eine Verpflichtung dem anderen Dorfbewohner gegenüber. Es gab somit nicht nur eine Notwendigkeit der gemeinsamen Bewirtschaftung der Felder: Nachbarschaftliche Hilfe
z. B. bei Errichtung oder Instandsetzung eines Gebäudes oder wenn irgendwo Not am Mann war wurden natürlicherweise erwartet. Die Gegenseitigkeit von Hilfe war ein unausgesprochenes Gesetz und „konnte[n] geltend gemacht werden, wenn sich die Notwendigkeit dazu ergab“. Wo das nicht der funktionierte konnte auch „Tratsch“ und „Zwietracht“ entstehen (vgl. Blum 1982:11).
Im positiven Sinne lässt sich die Dorfgemeinde somit als Solidargemeinschaft bezeichnen, in welcher Menschen aufeinander angewiesen aber auch für einander zuständig waren. Kaschuba beschreibt das empflindliche Gleichgewicht der Gemeinschaft im Folgenden:
„Fast jeder Raum und jeder Arbeitsvorgang waren dazu geeignet, entweder den Ausgangspunkt von Solidarformen zu bilden oder eben den Stein des Anstoßes für Konfliktfälle. Flursysteme und Drei-Felderwirtschaft, Ackergrenzen und Gemeinschaftsaufgaben, Nachbarschaftsbeziehungen und räumliche Enge machten eine entsprechende Kooperationsfähigkeit zur allerersten dörflichen Alltagstugend bzw. Alltagsregel“ (Kaschuba 1988:69).
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